Ätzendes Horrorverfahren - RA Niessig

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Texte
"Absolut ätzendes Horrorverfahren"
Bissen Dackel im Wege der Nothilfe?
von Christine Niessig,
veröffentlicht im Porta Magazin, November 2017

  
  
Gelegentlich treibt die Juristerei seltsame Blüten. So wie jene, die zwar bereits im Jahr 2002 aufblühte, aber bis heute im Internet kursiert.

Es geht um einen Tierhalterhaftpflichtfall, bei dem ein Kläger Schadenersatz und Schmerzensgeld forderte, weil er von drei Rauhaardackeln der Beklagten gebissen wurde. Die Beklagte erwiderte, dass ihre Haftung ausscheide, weil der Kläger einen der Dackel zuvor getreten habe und die anderen Dackel, die Tochter und Enkelin des getretenen Dackels seien, sich durch den Tritt im Wege der Nothilfe veranlasst gesehen haben, ihrer Dackelverwandten zu helfen.

Das Verfahren scheint von beiden Seiten sehr exzessiv betrieben worden zu sein, dies lässt zumindest der Inhalt eines Beschlusses vom 22.04.2002 vermuten, in dem es heißt:
„Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass dieses absolut ätzende ‚Horrorverfahren‘ bereits seit mehr als 1½ Jahren das AG beschäftigt und sämtliche Dimensionen eines amtsgerichtlichen Verfahrens sprengt; der Umfang von bisher 240 Seiten übersteigt schon ein normales OLG-Verfahren; die Parteien reichen ständig neue Schriftsätze ein, insoweit steht es inzwischen 16:11 für den Kläger. Dadurch wird dem Gericht jede Möglichkeit einer endgültigen, zeitaufwendigen Durcharbeit dieser entsetzlichen Akte und für die Absetzung einer Entscheidung genommen. Da die Sache nun wahrlich exzessiv ausgeschrieben ist, wird höflich darum gebeten, von weiteren Schriftsätzen Abstand zu nehmen, mit Ausnahme von konstruktiven Vergleichsvorschlägen, die allein noch sinnvoll wären. …”

Am Ende des Prozesses wurde dem Kläger ein Schmerzensgeld zugesprochen und festgestellt, dass die Beklagte als Tierhalterin haftet, weil einer der Rauhaardackel den Kläger unstreitig gebissen habe. In den Entscheidungsgründen führt das Gericht hierzu aus:

„Die Beklagte haftet als Tierhalterin gem. § 833 BGB auf Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe, weil zwischen den Parteien nicht ernsthaft im Streit ist, dass einer der Rauhhaardackel der Beklagten den Kläger gebissen hat. Das Gericht lässt es hier ausdrücklich offen, ob die drei Rauhhaardackel möglicherweise als Mittäter entsprechend § 830 BGB, § 25 II StGB gemäß vorgefasstem Beißentschluss gemeinschaftlich gehandelt haben, dies ist jedenfalls nicht streitentscheidend.
So scheidet jeweils eine terroristische „Dackel“-Vereinigung gem. § 129a StGB aus, weil keine der genannten Katalogstraftaten verwirklicht ist. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Dackel insgesamt eine Großfamilie bilden, immerhin handelt es sich um Mutter, Tochter und Enkelin, es besteht also durchaus eine enge verwandtschaftliche Beziehung, der Solidarisierungseffekt ist groß. Das Gericht vermochte aber nicht mit hinreichender Sicherheit festzustellen, dass Dackeltochter und Dackelenkelin im Wege der Dackel-„Nothilfe“ ihrer angeblich angegriffenen Dackelmutter bzw. -oma zu Hilfe kommen wollten, um diese vor den von der Beklagten behaupteten Tritten des Klägers mit beschuhtem Fuß zu schützen. Insoweit konnte auch kein - zwingend erforderlicher - Verteidigungswille bei den beiden jüngeren Dackeln festgestellt werden. Auch für Sippenhaftgedanken bzw. Blutrache haben sich keine genügenden Anhaltspunkte ergeben.“ (Urteil des AG Offenbach – 39 C 6315/96)

Was wir noch Jahre später belächeln, wird für die Prozessparteien sowie für die leidgeprüften Richter tierischer Ernst gewesen sein.
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